„What must capital always do? Capital must always – if you go back to Marcuse – must prevent that awareness amongst people that they could live differently and have more control over their own lives. It must prevent that. It has to do it, and has to keep doing it. Capitalists moan about hard work – and it is hard work! It never stops. It always has to keep preventing that potential.”1
Die harte Arbeit, die Mark Fisher hier beschreibt, ist die Grundlage der Stabilität des Gesellschaftssystems, wie wir es kennen – der kapitalistischen Produktionsweise. Verhindert werden soll im Wesentlichen eine bestimmte, moderne Form dessen, was bereits von Marx als Grundlage für gesellschaftliche Veränderungen herausgearbeitet wurde: des Klassenbewusstseins. Wirft man einen Blick darauf, wie energisch versucht wird diesem Bewusstsein entgegenzuarbeiten, wird schnell klar, wie sehr sich das herrschende System tatsächlich vor dessen Herausbildung fürchtet und wie real sein Potenzial ist.
Die Ressource, die es für das Kapital vor diesem Hintergrund zu kontrollieren gilt, ist die Lebenszeit der Menschen. Nichts entsteht und wird zu etwas, wenn sich nicht damit beschäftigt, keine Zeit darauf verbracht wird. Das Kapital weiß das und handelt entsprechend. In seiner Vorlesungsreihe zur Strafgesellschaft stellt Michel Foucault heraus, wie diese Ressource kontrolliert und damit das Risiko gesellschaftlichen Wandels minimiert werden kann: Die zu lösende Aufgabe besteht darin, die Lebenszeit der Menschen in Arbeitskraft zu verwandeln.2 Alles muss dem Produktionsprozess unterworfen werden. Hieraus resultiert die von Fisher beschriebene „harte Arbeit” über die sich „Kapitalisten“ fortlaufend beschweren.
Folgt man Foucault, ist die Umwandlung der Lebenszeit der Menschen in Arbeitskraft keine Garantierung der Produktionsweise, sondern vielmehr konstitutive Notwendigkeit. Es gibt keinen Weg daran vorbei. Bereits seit der Geburt der kapitalistischen Produktionsweise wurde die gesamte Lebenszeit der Menschen in den Blick genommen und sollte kontrolliert werden. Der Zugriff hat sich im Laufe der Zeit allerdings immer weiter verfeinert und ist effektiver geworden. So war die sog. „Freizeit” der Menschen lange noch nicht in der Form unter Beschlag, wie sie es heutzutage ist. An anderer Stelle habe ich diese Ausweitung ausführlicher behandelt. Im Fokus dieses Beitrages steht der Anspruch, der Enteignung von der eigenen Lebenszeit etwas entgegenzusetzen, denn schließlich sind „[d]ie Zeit und das Leben der Menschen […] nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Vergnügen, Diskontinuität, Feiern, Ausruhen, Bedürftigkeit, Momente, Zufall, Gewalt etc.”3 Meine Antwort auf das Problem sind die minoritären Modi des Zeitverbringens.
Die Konzeption dieser Modi ist nicht einfach, da sie immer von konkreten Umständen und Situationen abhängig sind. Klare Definitionen und trennscharfe Abgrenzungen zu anderen nicht-minoritären Modi sind nur begrenzt möglich. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Dichotomie von Majorität und Minorität nicht existiert. Beide stehen immer miteinander im Verhältnis und bedingen sich gegenseitig. Anhand dreier Merkmale kann dennoch ein konzeptioneller Rahmen entworfen werden. Die Merkmale sind für minoritäre Modi des Zeitverbringens entscheidend, nicht aber abschließend. Es sind die folgenden:
- Minoritäre Modi des Zeitverbringens orientieren sich an majoritären Zuständen. Sie entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern durch das Gefühl der Einengung, das durch eben jene majoritären Zustände hervorgerufen wird. Minoritäre Modi zielen auf die Transformation majoritärer Zustände ab.
- Die Zeit wird als die eigene begriffen, man eignet sie sich wieder an – auch wenn man dabei nach der Prämisse „as if” handelt.
- Das Moment der Affektion spielt eine entscheidende Rolle. Es gibt keine Minorität ohne Affektion – und damit auch keine minoritären Modi des Zeitverbringens
Majoritäre Zustände als Ausgangspunkt: Problematisierung der Normalisierung
Von Kindesbeinen an wird uns beigebracht, wie wir uns in der Gesellschaft zu verhalten haben. Das ist auf der einen Seite notwendig, um am Leben in unserer Gesellschaft teilhaben zu können und den Umgang mit seinen Mitmenschen zu lernen, doch birgt dies immer auch die Gefahr, bestehende Zustände unreflektiert zu reproduzieren. Diese Art der Reproduktion ist für das Kapital entscheidend. Wenn einem fortlaufend erzählt und vorgelebt wird, dass es keine Alternative zur Lohnarbeit und dem Kapitalismus im Allgemeinen gibt, entspricht das der gegenwärtigen gesellschaftlichen Auffassung. Doch was damit passiert, ist, dass diese Verhältnisse als zweite Natur erfahren werden. Eine Veränderung erscheint tatsächlich als unmöglich, da es doch der natürliche Gang der Dinge ist. Eben hierin spiegeln sich die Erträge der harten und beständigen Arbeit des Kapitals wider, das Leben aller Menschen dem Produktionsprozess zu unterwerfen. Neben der Lohnarbeit gibt es noch weitere Beispiele, die von diesem Bestreben zeugen. Foucault führt für die Zeit des 19. Jahrhunderts die Erfindung der Sparkassen und das Auszahlen von Tageslöhnen an. Beides war darauf ausgelegt, die Arbeiter in ihrem Verhalten zu disziplinieren. Sie sollen sparen, sodass sie auch eine kurzzeitige Arbeitslosigkeit und Lohnausfälle überstehen würden und nur so viel Geld besitzen, dass sie nicht mehr damit machen können, als sich grundlegend am Leben zu halten oder – sollte das dafür nicht reichen – Schulden aufnehmen müssen, und so noch stärker an das System ökonomischer Notwendigkeiten gebunden werden. Diese Mechanismen fallen unter das, was er Disziplinarmacht nennt. Zu den Mechanismen und Techniken der Disziplinarmacht sind innerhalb der letzten Jahrzehnte die der Kontrollmacht hinzugekommen.4 Hier drunter fällt alles, was auf Basis von Informationen, Feedback und Algorithmen das Handeln der Menschen flexibel und zielgerichtet konditioniert – und damit die Kontrolle gesellschaftlicher Ströme noch enger strickt. Auch diese Herrschaftsmechanismen haben sich normalisiert und tragen zur Produktion der gewünschten sowie benötigten Subjekte bei, indem die Zeit der Individuen noch umfänglicher als zuvor in Beschlag genommen wird. Der Clou: Allen erscheint das als das Natürlichste der Welt; im Zweifel haben Sie auch noch Spaß dabei.
Sich an diesen majoritär-normalisierten Zuständen zu stoßen und sie als das wahrzunehmen, was sie sind – Repression und Einschränkung – ist der Ausgangspunkt für minoritäre Modi, seine Zeit zu nutzen. Dies kann beispielsweise durch die einem immer wieder aufgezwängte Frage passieren, wie man im kargen Zeitresiduum, das einem in seiner sog. Freizeit zugestanden wird, seine noch nicht ganz verstümmelten Interessen sowie all seine menschlich-sozialen Bedürfnisse unterbekommt. Schnell stößt man dabei an unüberwindbare Grenzen und erfährt das Gefühl des Eingepferchtseins. Das Problem der künstlich produzierten Zeitknappheit drängt sich einem mit Gewalt auf und lässt das Bewusstsein dafür entstehen, wie repressiv das Zeitregime in der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Solche Situationen provozieren die Suche nach einem Ausweg. Man versucht zu fliehen und neue Wege zu finden. Das Ziel minoritärer Modi des Zeitverbringens ist es aus dem Gefühl des Eingeengtseins, neue Wege zu betreten und Perspektiven aufzuspannen – immer mit dem Ziel, die majoritäre Normalität zu verändern. Die Ausgestaltung und Form dieser Wege hängt von der konkreten Situation ab und ergibt sich nur aus dieser heraus. Die Problematisierung der Normalisierung ist jedoch immer entscheidend.
Die Zeit als die eigene begreifen
Um zu dieser Problematisierung zu kommen und diese voranzutreiben, muss die Zeit als die eigene begriffen werden. Hiermit stellt man sich der Enteignung durch das Kapital entgegen und unternimmt den Versuch, sich seiner Macht zu entziehen. Insbesondere vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Effektivität der gesellschaftlichen Kontrollmechanismen stellt sich aber unweigerlich die Frage, wie das funktionieren kann. Anhand der seit den 1960er Jahren immer weiter eingeschränkten Sozialleistungen in Großbritannien bringt Fisher die dahinter liegende Schwierigkeit auf den Punkt: „These developments precisely opened up a kind of time that is now increasingly difficult to access: a time temporarily freed from the pressure to pay rent or the mortgage”.5 Die herrschenden Umstände drängen einen dazu, seine Zeit fortlaufend ökonomischen Narrativen und Notwendigkeiten unterordnen zu müssen. Wie es Foucault schreibt, wird eine Vollbeschäftigung angestrebt.6 Die volle Zeit der Arbeiter wird beansprucht: Nicht nur die Zeit auf der Arbeit wird in Beschlag genommen, auch die Freizeit, in der die eigene Arbeitskraft entweder reproduziert oder aufgewertet werden soll. Hierrunter leidet insbesondere die gesellschaftliche Fähigkeit zur sozialen Imagination. Dieser Zustand der Kreativitätslosigkeit ist vom Kapital forciert und steht im Zentrum dessen, was Fisher Capitalist Realism nennt.7 Die Zeit als die eigene zu begreifen, ist unter diesen Bedingungen einfacher gesagt als getan, weil es eben nicht der Fall ist, dass die Zeit tatsächlich die eigene ist – man ist von ihr enteignet.
Franco „Bifo” Berardi liefert einen Ansatz, wie auf diese Problematik geantwortet werden kann. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee des “act as if”. Berardi entwickelt sie vor dem Hintergrund folgender Diagnose: „In the forthcoming future I do not see any predictable form of subjectivation, of resurrection of consciousness and emancipation: the social civilization is over, the Neoliberal precarization of labor and the media dictatorship have destroyed the cultural antibodies that in the past made resistance possible.”8 Angesichts dieser Zustände müsse man ihm zufolge so handeln, als gäbe es dennoch die Möglichkeit, dass es anders wird. Nur aus einer solchen Haltung heraus, könne schließlich überhaupt noch etwas Neues entstehen. In Anlehnung an dieses Muster gilt es, seine Zeit so zu verbringen, als wäre es trotz allem die eigene – nicht bestimmt und konditioniert durch die Instrumente und Herrschaftstechniken der kapitalistischen Produktionsweise. Folgt man dieser Prämisse, schafft man die Möglichkeit, sich beim Verbringen seiner Zeit den oktroyierten ökonomischen Narrativen zu entziehen; sich gegen den zur Realität gewordenen Zustand zur Wehr zu setzen, dass – mit Fishers Worten – Arbeit Wochenenden, Abende und sogar unsere Träume kolonisiert.9
Diese Haltung kostet viel Anstrengung. Insbesondere im Gegensatz zu einem der stärksten und zeitaufwändigsten Narrative der Gegenwart – dem Konsum unterschiedlichster Produkte der (Kultur-)Industrie, egal ob digital oder analog. Anders als dort wird Zeit in minoritären Modi immer aktiv verbracht. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch der Einfluss – die Affektion – anderer sowie die selbst auf andere ausgeübte Affektion. Durch diese wird das Minoritärwerden multipliziert.
Das Moment der Affektion
Ohne Affektion gibt es keine Minoritäten und damit auch keine minoritären Modi des Zeitverbringens. Ein genauerer Blick auf den Begriff der Minoritäten erleichtert das Verständnis hierfür. Bei Minoritäten handelt es sich um keine Gruppe bzw. Ansammlung von Dingen und Personen, die zu einer Einheit werden. Sie sind rhizomatisch strukturiert: Jedes Teil bleibt ein Teil für sich, doch verändert sich durch die Verbindung zu anderen Teilen. Ihre der Majorität entgegengesetzte Position macht sie zur Minorität. Beide Begriffe – Minorität und Majorität – werden bei Deleuze qualitativ verstanden: Was sie ausmacht, ist nicht ihre Größe, sondern wie sie in der Gesellschaft verortet sind und sich dort verhalten. Nicholas Thoburn verdeutlicht diesen Punkt, indem er beide als bestimmte treatments of life herausstellt. Es sind Prozesse, die sich innerhalb einer Gesellschaft vollziehen und Zustände, die vorhanden sind.10
Die Kraft, die Minoritäten innewohnt, geht von der Differenz ihrer Einzelteile aus – sie strebt keine Einheit an: „Minor composition […] is not a synthesis, but an amplification of disjunctions.”11 Nur durch die Verschiedenheit der Einzelteile können Minoritäten überhaupt Wirkung erhalten und entfalten. Jene Wirkung entsteht durch das gegenseitige Aufeinander-Wirken der unterschiedlichen Teile einer Minorität sowie die Auseinandersetzung mit ihrem Außen, der Majorität. Das, was in diesem Zuge passiert, ist ein Sich-gegen-die-Majorität-Ausdruck-Verschaffen. Dabei versucht man weder eine neue Identität zu bilden noch sich größere Anerkennung oder Repräsentation zu erkämpfen; Minoritäten werden durch Fragen angetrieben wie „how are we composed“ und „how do we create“.12 Die kreative Arbeit steht im Fokus. Minoritäten erschaffen sich durch das Zusammenwirken minoritärer Teile und deren gegenseitigen Affektion aus den durch die Majorität geschaffenen Bedingungen der Einengung.
Was bedeutet das nun für minoritäre Modi des Zeitverbringens? Zeit kann nur auf eine dieser Weisen verbracht werden, wenn sie in Zusammenhängen zu etwas Kollektivem steht. Indem man mit anderen in Verbindung tritt und Beziehungen eingeht, verändert man sich selbst sowie seine Außenwelt. Provoziert werden diese Situationen durch ein wie auch immer gelagertes Gefühl der Einengung. Darüber entsteht der Kontakt zu anderen und man tauscht sich mit diesen aus. Der Prozess des Minoritärwerdens umfasst hiermit auch einen Prozess der Bewusstseinsbildung. Durch den Austausch betreibt man das, was weiter oben bereits beschrieben wurde: die Problematisierung der Normalisierung. Dabei ist entscheidend, dass sich die Affektion nicht durch kapitalgetriebene, sondern durch (andere) minoritäre Teile vollzieht, die sich aus Notwendigkeit dem Kapital und der Majorität entziehen. Durch den Austausch entwickelt man ein besseres Verständnis für die gemeinsame Situation. Diese Interaktion läuft drei entscheidenden Elementen moderner Herrschaft zuwider: Der Angst, der Isolation und der Unsicherheit. Alle drei gehören zur alltäglichen Nomenklatur des Neoliberalismus und zielen darauf ab, die Menschen an die Umstände zu binden, wie sie sind. Sie sollen mit sich und nichts anderem beschäftigt sein.
Freilich können minoritäre Modi des Zeitverbringens und die Interaktion mit anderen diese Mechanismen nicht ohne weiteres auflösen, doch schaffen sie den Rahmen dafür, diesen für einen Moment zu entkommen und so die Basis für alles weitere zu schaffen. Dieser Rahmen hält zudem noch ein anderes wichtiges Potenzial bereit: Die Flucht vor der ubiquitär gewordenen Fragmentierung der Zeit und der Aufmerksamkeit, die fortlaufend die eigene Konzentration auflöst. Minoritäre Modi des Zeitverbringens sind ein Mittel gegen die „harressed busyness“13, die kennzeichnend für unsere Zeit ist.
Die Form, die die Interaktion und das In-Beziehung-Treten mit anderen annehmen kann, ist unterschiedlich. Wenn etwas verändert werden soll, ist es zum einen der direkte, persönliche Kontakt mit anderen über die gemeinsame Situation, der entscheidend und ab einem bestimmten Zeitpunkt unumgänglich ist. Auch die Auseinandersetzung mit Texten, Büchern und Beiträgen ist aber elementarer Bestandteil für Prozesse des Minoritärwerdens und minoritärer Modi des Zeitverbringens – halten diese doch Ideen und Reflexionen vergangener Zeiten fest, auf die zurückgegriffen werden kann und muss.
Zur Notwendigkeit minoritärer Modi des Zeitverbringens
Die drei ausgeführten Merkmale minoritärer Modi des Zeitverbringens liefern einen Orientierungspunkt für den Widerstand gegen die Umstände eines eingekerkerten Lebens und schaffen damit Bewusstsein für eines der, wenn nicht das zentrale Problem der gegenwärtigen Gesellschaft: Die Enteignung der Menschen von ihrer Lebenszeit. Der Anspruch der Konzeption fällt mit der Arbeit an der Wiederbelebung der sozialen Imagination zusammen. All das kann nur mit und durch minoritäre Modi des Zeitverbringens entstehen und weiterentwickelt werden – auf der Basis der hier entwickelten Merkmale gilt es, diese Modi konkret zu gestalten. Klar ist dabei auch, dass es nicht darum geht, sich komplett von der Popkultur und allen anderen majoritären Modi des Zeitverbringens abzuschotten. Es braucht zwischenzeitlich Erholung, Zerstreuung und Ablenkung. Den ökonomischen Zwängen der Gegenwart ist auch nicht einfach zu entfliehen. Ohne neue Impulse wird sich die Gesellschaft allerdings nicht verändern. Es braucht eine Nutzung der Zeit abseits der majoritären Modi, die einzig und allein auf die Reproduktion des Status Quos und der Macht des Kapitals ausgelegt sind. Ein letztes mal Fisher dazu: „If there is to be any kind of future, it will depend on our winning back the uses of time that neoliberalism has sought to close off and make us forget.”14 Dies sind die minoritären Modi des Zeitverbringens – es führt kein Weg an ihnen vorbei. Sie legen die Basis für Strategien, soziale Kräfte neu zu komponieren und Alternativen zur Gegenwart des kapitalistischen Realismus wieder denkbar zu machen.